Die Philosophie des Renaissance Tarot
Frei | Inspiriert | Revolutionär
– 3 –
» Wenn Du Gott Dir fern wähnst, verhalte Dich so, als ob Du Dich in inniger Nähe und Geborgenheit befändest. « Meister Eckhart um 1300
MYSTIK
MYSTIK
Die mittelalterlichen Mystiker, die wie Meister Eckhart den direkten Kontakt zur göttlichen Sphäre ohne die Umwege des organisierten Religionsbetriebs suchten, waren der Kirche stets suspekt gewesen. Mystik lebt in allen Kulturen im Abseits der offiziellen Religion. Ihre Praktiken beruhen durchweg auf Stille und meditative Verssenkung. Das Bild des Einsiedlers in seiner Höhle ist eine klassische Vorstellung jener Zeit.
Nun kam pünktlich zu Anbruch der Renaissance eine ganz neue, auf das Erwachen des eigenständigen Denkens zugeschnittene Variante auf: Ein gewisser Cusanus bot einen revolutionären Weg an, in die unorthodoxe Spiritualität der Mystik einzutreten, ohne erst in die Wüste gehen zu müssen. Es handelt sich um keinen geringeren als Kardinal Nikolaus von Kues, zeitweiliger Sekretär des Papstes, der sich unter anderem dadurch in Schwierigkeiten brachte, daß er erklärte, alle Religionen seinen im Kerne eine einzige. Deutlich spüren wir hier die für die Naturphilosophie typische Bereitschaft, das Getrennte zu vereinen. Der in Naturphilosophie bestens bewanderte Kardinal begründete zu Anfang des 15. Jahrhunderts den rationalen Mystizismus, eine mentale Übung, bei der das Denken durch den Zusammenprall unvereinbarer Information (coincidentia oppositorum) ausgehebelt wird. Mit dem rationalen Mystizismus präsentierte der in ganz Europa gelesene Cusanus eine Waffe zur Erlösung des Geistes von der Borniertheit des Verstandes. Das Paradoxe ist Methode: Wo der Kopf angesichts der Irrationalität keine Entscheidung mehr fällen, keinen Sinn mehr erkennen kann, kann das Herz erwachen zu spontaner Erkenntnis – bis zum mystischen Erleben der All-Einheit.
Es klingt nach Zen; tatsächlich drangsalieren die Mystiker des Buddhismus zum selben Zwecke spontaner Erkenntnis ihre Schüler mit Koans, ‘unlösbaren Rätseln.’
Je mehr das Alltagsbewußtsein, der ‚gesunde Menschenverstand‘, durch das Nachsinnen über die unpassenden Teile ermüdet, desto bereitwilliger öffnet sich die tief in unserem Inneren ruhende Instanz der kosmischen Vernunft, die, über alle Widersprüche erhaben, den Menschen zum Zustand des Glücks jenseits von Urteilen und Meinungen führen möchte.
Aus solcher Perspektive erschienen die paradoxen Gleichnisse von Jesus Christus in neuem Licht. Im Neuen Testament finden wir Gegensätzliches bis zur Absurdität verbunden. Nicht nur würden die Letzten die Ersten sein, für Faulheit sollte es den gleichen Lohn geben wie für Fleiß; das Leben müsse man hassen, um es zu gewinnen, von der Liebe zum Feind ganz zu schweigen.
Auch Sokrates, so erfahren wir aus den Texten seines Schülers Platon, konnte die Zeitgenossen derart in Widersprüche verwickeln, daß sich ihre Gelehrtheit und starren Moralvorstellungen aufzulösen begannen. Doch aus der Verwirrung erhob sich nicht immer nur höhere Erkenntnis, sondern auch Beschämung und Verärgerung. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, weil er die Jugend verderbe.
Voller Interesse nahm man in der Renaissance diesen Faden der coincidentia oppositorum mit ihrem verblüffenden Zusammenspiel der Gegensätze wieder auf.

Vor goldenem, göttlichen Hintergrund
umfaßt Christus die Erdensphäre mit
Sonne – absolut
Mond – relativ
Das Kreuzsymbol im Heiligenschein verweist auf die
Vereinigung der Gegensätze als Weg zum selbstlosen Christus-Bewußtsein.
Philosophie des Lachens und der Freude

Das von Leaonardo eingefangene Auflachen eines Bauern vermittelt einen Eindruck von der neuen künstlerischen Freiheit,
durch die selbst das Ordinäre zum Tor für Natürlichkeit werden konnte. (um 1480)
Eines der eindrücklichen Beispiele und vielleicht die schönste Form, in der sich die coincidentia oppositorum entfalten kann, ist der Witz. Der belustigende Effekt entsteht aus einem blitzartigen Umschlagen des Sinns in sein unerwartetes Gegenteil. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Beim Witz entsteht das Lachen durch den Zusammenprall hoffnungslos disparater Information. Die Geschichte nimmt urplötzlich eine völlig unerwartete Wendung – und je verblüffender, das heißt abseitiger die Pointe, desto mehr wird gelacht.
In der Renaissance wurde das Lachen nach tausend Jahren mittelalterlicher Frömmigkeit erstmals wieder mit der commedia dell‘arte in den öffentlichen Raum eingeführt.
Während bei der Tragödie die Zuschauer von Anfang an wissen, daß es schlecht ausgehen wird und nun auch noch miterleben müssen, wie die anfängliche Ordnung zusehends zerfällt, bis unabwendbar jede Hoffnung verloren ist, trumpft die Komödie laufend mit Überraschungen auf. Hier wird die herrschende oder erwartete Ordnung in jedem Augenblick auf neue Weise verdreht, damit gelacht werden kann. Auch in der Komödie geht laufend alles schief, aber eben das nimmt man mit Humor.
Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt erklärt das Entstehen der Komödie so: „Die Tragödie … setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie (…) eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene.“ Das paßt auf die Umwälzungen der Renaissance-Welt in vielerlei Beziehung. Jede Aufbruchsstimmung geht einher mit der Freude am Ungewissen.
In der commedia dell’ arte wurde – wie im Karneval, der damals noch vier Monate dauerte – die gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf gestellt: Daß Frauen im Alltag vor Männern knieten, war eigentlich undenkbar.
Abbildung von ca. 1570 – aus Wikipedia


Der Narr auf der Bühne.
Detail aus einem modernen, heute zum Kartenspielen
sehr gebräuchlichen französischen Tarotdecks.
Edition Grimaud-Ducale: Le Renouveau du Tarot
Die linke Hand der Frauenperson ruht leger auf der Schulter des Mannes. Die offene Handfläche ihrer rechten, aktiven Hand hat sie ihm unter der Gürtellinie zugewandt. Was macht sie damit? Die Kartenmacher verarbeiteten hier ein typisches Szenario aus der burlesken Welt der commedia dell’ arte.

Der Wagenlenker auf der Trumpfkarte VII trägt als Schulterstücke seines Rocks die lachende und die weinende Maske des Theaters. Auch der Vorhang oben gehört eigentlich eher zum Theater, als zu einem Pferdewagen.
Zwar sieht es so aus, als hielte er mit gebietender Gebärde die Zügel zu den Pferden in der Hand. Doch da sind keine Zügel. Die Haltung ist pure Geste! Die Gäule wollen in verschiedene Richtungen laufen. Die Räder des Wagens stehen auch schon quer. Dieser Wagen wird nirgends hinfahren.
Tragödie oder Komödie? Insgesamt ein heiterer Blick der alten Tarot-Meister auf das Menschenschicksal.
Die Initialen V.T. auf dem Wagen stehen für lat. VEHICULUM TERRAE – Das irdische Fahrzeug (der Seele)
Die Hand, die die Zügel zu halten vorgibt, ist leer.

Zwei beliebte Spaßmacher der Komödie (wie auch der Karnevalsumzüge) waren der Narr und der Gaukler. Aus diesen beiden Komödianten entwickelten sich die ersten Schlüsselfiguren des Tarotspiels.
Nachdem die saloppe und spöttische commedia dell’arte vom ernsteren literarischen Theater und nicht zuletzt durch den Druck der erstarkenden kirchlichen Gegenreform verdrängt worden war, lebte der Humor in dem kleinen Kartenspiel weiter.

Mehr noch: Gute Laune wurde zum Ziel und Motto der Selbstbefreiung.
Als das Dogma von Himmel und Hölle, kirchliche Vision ewiger Seligkeit für die Gläubigen und ewiger Verdammnis der Sünder als Lebensmotiv viele Zeitgenossen nicht mehr befriedigte, begannen sich die Ersten klarzumachen, daß ‚ewige Seligkeit‘ letztenendes genauso gut ‚niemals endende Heiterkeit‘ bedeuten könnte. Warum sollte die sich erst nach dem Tod einstellen? Konnte man sie nicht gleich erleben? Wie wäre es mit Lebensfreude, Leichtigkeit und Humor als Grundlage der Persönlichkeitsentfaltung und des Zusammenlebens?
Bei den Griechen hatte man das lebensbejahende, strahlende Ideal von Jupiter abgeschaut und wollte es nun selbst probieren.
Vom heiteren Denken:
König und Reiter
der Schwerter


s Schwerter repräsentieren das Luftelement 2 ,
das über das Denken, also unsere Urteile, Ansichten und Ideale regiert.
– Könige entscheiden, bestimmen die Richtung und die Zukunft
– Reiter führen aus, verwirklichen, schaffen Realitäten
Wie der Wagenlenker auf der Trumpfkarte VII trägt auch der König der Schwerter die lachende Maske der Komödie und die weinende Maske der Tragödie. Er trägt die Verantwortung, ob humorvolles oder ‘negatives’ Denken seine Entscheidungen und alle damit verbundenen Ereingnisse färbt.
Beim Reiter der Schwerter wurde die weinende Maske weggelassen. Er trägt allein die lachende Maske der Komödie. Während Könige die Dinge planen, schaffen Reiter Fakten und organisieren die wahren Geschehnisse des Lebens.
Was will uns die lachende Maske des Reiters sagen ?
Die Schöpfer der Karte schlugen vor, das Denken auf Freude zu richten. Einerseits fördert Freude die Leichtigkeit im Tun und Handeln. Auch Problemen und Verwicklungen steht der Reiter des Luftelementes dank seiner lachenden Maske mit innerer Heiterkeit statt mir lähmender Besorgnis gegenüber. Doch das Denken der alten Tarot-Meister war in eine noch weitere, geistigere Dimension gerichtet. Angeregt durch die Mystik als direktem Weg zu kosmischer Verbundenheit und Erkenntnis, bezogen sie sich auf Einsichten wie diese:
Laß’ niemals Schwermut über Dich kommen,
denn sie hindert Dich an allem Guten.
Johannes Tauler, Schüler Meister Eckharts
(etwa 1300 – 1360)
» Es gibt keinen Weg zum Glück.
Glücklichsein ist der Weg «
Buddha
Befreiung à la Renaissance
Die Befreiung von der bedrückenden Ideologie der Sünde erzeugte eine bisher unbekannte Willensfreiheit und in deren Gefolge den Typus eines Menschen, der – so die Worte des Philosophen Pico delle Mirandola:
„zum Tier entarten und zum göttlichen Wesen sich wieder gebären“ kann.
Interessant im Zusammenhang mit dem Renaissance-Thema der Komplementarität ist in Picos Satz das verbindende Wort ‚und‘ an der Stelle, wo man eine Aufforderung erwarten könnte, zwischen dem Vertieren und dem Göttlich-werden zu wählen. Denn genau mit diesem ‚und‘ lebten die Großen der Renaissance, kaltblütig mordend und huldvoll fördernd, religionstreu und kriegerisch gegen den Papst, stets bereit, auch das Gegenteil zu tun, skrupellos die Seiten zu wechseln, wie es Machiavelli in seinem Buch Der Prinz ausführlich demonstrierte.
Es wundert wenig, daß sensiblere Seelen sich angesichts des gewaltigen Auseinanderbrechens im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen nach harmonischem Zusammenspiel sehnten und nach dem fernen schattenlosen Licht des Makrokosmos. Gleichzeitig war das Zulassen der menschlichen Schwäche und Schlechtigkeit ein wesentlicher Zug der in diesem Sinne doch wieder ausgewogenen neuen Weltanschauung jener Zeit. Ohne diese Akzeptanz der dauernden Schräglage, in der das Leben getanzt wurde, wäre das Entstehen der Komödie kaum denkbar. Und damit auch nicht die Geburt der beiden Spaßvögel, die das Tarotspiel einleiten.

Auf der höchsten Trumpfkarte 21 wird der Einbruch des Närrischen in Disziplin und Ordnung mit anarchischem Vergnügen zelebriert.

Modernes, heute in Frankreich zum Kartenspielen gebräuchliches Tarotdeck der Edition Grimaud-Ducale: Le Renouveau du Tarot

Freiheit prallt auf Form: Der Narr als unerwarteter Gast inmitten einer Soirée der feinen Gesellschaft.





Bescheid sagen ?

